Von Plätzchenduft und Unbesinnlichkeit

Vor einigen Tagen habe ich meine Mutter im Seniorenheim besucht. Dort war alles festlich geschmückt und die Betreuerinnen sangen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Weihnachtslieder. Dann wurde von früher erzählt, vom Nikolaus und vom Naschen am Plätzchenteig. „Die Erinnerungen sind so schön“, sagte der Mann neben mir und strahlte.  

Meine Weihnachtserinnerungen aus Kindheit und Jugend sind da deutlich weniger besinnlich. Klar, auch meine Mutter backte Plätzchen und wir durften den Teig probieren. Sie waren aber erstmal nicht für uns bestimmt, sondern wurden bei der jährlichen Adventausstellung in ihrem Blumengeschäft herumgereicht. Es hieß also „Finger weg“ von den Blechdosen, bis der große Tag vorüber war und die Reste für uns freigegeben wurden.  

Da meine Mutter nie sonderlich streng war, gab es für meine Schwester und mich hin und wieder Ausnahmen von dieser Regel. Vor unserem zuckersüchtigen Vater musste sie ihre Plätzchen allerdings verstecken, wenn für die Kundinnen und Kunden noch etwas übrigbleiben sollte. Doch auch wenn bei seiner Heimkehr alle Backspuren beseitig und die Dosen an einem sicheren Ort verstaut waren – der Duft verriet natürlich trotzdem, was in den letzten Stunden passiert war. Und so startete er nicht selten nächtliche Suchaktionen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich.  

Je näher das Weihnachtsfest rückte, desto mehr Arbeit gab es im Laden. Und wir mussten alle mit anpacken. Ihren Höhepunkt erreichte die Unbesinnlichkeit am 24. Dezember. Der Startschuss fiel schon um acht Uhr morgens. Während meine Schwester im Geschäft half, lieferten mein Vater und ich, wie schon an den Tagen zuvor, die Bestellungen aus. Eine Aufgabe, die mir sehr gefiel. Denn erstens wurde man häufig so empfangen, als wenn man selbst die Schenkerin und nicht nur die Überbringerin war. Und zweitens kam an diesen Tagen ein ordentliches Trinkgeld zusammen.  

Wenn gegen 14 Uhr alle Vasen leer waren, beseitigten wir noch schnell die Spuren der letzten Stunden und stießen mit Sekt oder Selters darauf an, dass wir es wieder einmal geschafft hatten. Nicht selten klopfte währenddessen noch ein panischer Kunde – ich muss hier nicht gendern, denn nach meiner Erinnerung waren es immer Männer – an die Ladentür. Wenn er Glück hatte, konnte meine Mutter ihm aus drei übriggebliebenen Gerbera und ein paar Kiefernzweigen noch ein Sträußchen zaubern. Objektiv keine große Floristenkunst, für den Zuspätkommer dennoch ein Anlass für höchste Glückseligkeit.  

Wer jetzt denkt, nach getaner Arbeit wären wir erschöpft in ein tiefes Weihnachtskoma gefallen, irrt sich. Es folgten Kirchgang, Bescherung und Weihnachtsessen in mittelgroßer Runde mit Freunden und Verwandten. Darunter auch unsere wundervolle Familienfreundin Inge, die zuvor bereits in der Küche gewirbelt und das Menü vorbereitet hatte.  

Bis 2000 absolvierten wir diesen Weihnachtswahnsinn jedes Jahr aufs Neue. Im darauffolgenden Sommer schloss meine Mutter ihr Blumengeschäft und folgte meinem Vater in den Ruhestand. Trotzdem steigt mein Unruhepuls immer noch stetig an, je näher das Weihnachtsfest rückt. Und das obwohl bei uns heute nicht annähernd so viel Trubel herrscht, wie seinerzeit in meinem Elternhaus. Vermutlich handelt es sich um Restadrenalin mit langer Halbwertzeit.  

Meine Mutter kann ihre Weihnachtserinnerungen leider nicht mehr mit ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern teilen, da sie seit einigen Jahren in ihrer eigenen Welt lebt. Früher erzählte sie uns aber häufig von den Nikolausabenden, wenn der kettenrasselnde Knecht Ruprecht ums Haus schlich und Nüsse durchs Fenster warf. Ein Spuk, den ihr älterer Bruder lange von ihr unbemerkt veranstaltete und der sie als kleines Mädchen in solche Angst versetzte, dass sie uns solche Gruselerlebnisse ersparte. Und sie sagte in der Adventzeit gerne ihr Lieblingsgedicht aus ihrer Kindheit auf: „Weihnachten“ von Joseph von Eichendorff. Mit ruhiger Stimme und dem Blick in die Ferne gerichtet sprach sie dann die Zeilen „Markt und Straßen stehn verlassen, still erleuchtet jedes Haus …“. Ein bisschen Besinnlichkeit gab es eben auch bei uns.